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Freitag, 5. Mai 2017

EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN - Greatest Hits live in der Kölner Philharmonie

Location: Philharmonie, Köln
Date: 03.05.2017

 

Auf dem jetzt 37-jährigen Weg der Einstürzenden Neubauten vom Berliner Moon-Club ins Feuilleton hat der einst hagere Blixa Bargeld ordentlich zugelegt und Haare gelassen.

Aber auch seine Anhängerschaft, ich eingeschloßen, ist in die Jahre gekommen. Zwar sieht man an diesem regnerischen Abend an der Kölner Philharmonie noch immer sehr viele in schwarz gekleidete Menschen, aber aus dem Untergrund kommt hier keiner mehr. Vielleicht noch nicht satt, aber gesättigt alle mal. Es fließt reichlich Kölsch, denn es wird schwer ein Neubauten-Konzert ohne Bierchen in der Hand zu überstehen und dann muss man auch noch sitzen, wie es sich in der Philharmonie geziemt und rauchen, ist ja leider auch nicht mehr erlaubt.


Vorteil des beruhigten Lebens: Es geht pünktlich los ... und es erklingen an diesem Ort ja sogar noch drei Fanfaren, damit man weiß, wann es allerhöchste Zeit ist, das Bierchen zu leeren und den Sitzplatz einzunehmen.

Die Herren Neubauten betreten die Bühne. Blixa ist barfuß. War da schon immer so? Erst später bemerke ich, dass auch die Herren Hacke (Bass) und Arbeit (Gitarre) ohne Schuhe ihr Werk vollbringen. Wäre man böse, könnte man denken Blixa kommt in seinem dunkelgrauen Anzug gerade von einer Versicherungsvertreterveranstaltung. Bin aber nicht böse, bin Neubauten-Fan, wenn ich auch mit dem 2004er Album "Perpetuum Mobile" nicht mehr dem wahrlich noch immer großem harten Kern angehöre. Das im April 2016 erschienene Album "Nerissimo" bei dem Blixa mit dem Italiener Teho Teardo gemeinsame Sache macht, fand ich sogar ganz schrecklich. Blixa ist also nicht mehr der Messias früher Jahre - Teile des Gebäudes sind zerstört - aber er ist noch immer ein großer Zampano - im positiven Sinne.

Die Bühne, die wie eine Baustelle aussieht, erwacht zum Leben. Hacke lässt den Bass flirren und Blixa bittet uns in "The Garden", dem Stück das 1996 auf dem Album "Ende Neu" zuhause ist, welches 1996 die Band an einen Wendepunkt brachte. FM Einheit verlässt die Band, Hacke wechselt von der Gitarre an den Bass, weil Gitarrist Roland Wolf bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben kommt. 1997 stoßen Jochen Arbeit und Rudolf Moser zu den Neubauten. Seit 2014 sitzt Felix Gebhard hinter dem Keyboard, so auch heute Abend.

Nach dem ruhigen Einstieg folgt "Haus der Lüge", leider nicht in der ürsprünglichen 89er-Albumversion, sondern in der "New Mix"-Version des "Greatest Hits"-Albums die weniger energetisch wirkt als das Original. Der Klang passt noch nicht ganz und etwas lauter dürfte es ruhig auch sein.

"Let's Do It a Dada". Der Sound wird besser, aber nicht lauter. Der Song ist ein Paradebeispiel dafür, weswegen jeder mindestens einmal im Leben die Einstürzenden Neubauten live erleben sollte, denn was auf Konserve eben nicht vermittelt wird, ist mit welchen Gegenständen die Neubauten nicht nur Klänge, von Lärm kann man schon länger nicht mehr sprechen, sondern eben Musik erzeugen.

Gründungsmitglied N. U. Unruh und "Rudolf Moshammer" musizieren auf PVC-Rohren, auf Metallgegenständen jeglicher Art und auf seltsamen Röhrengerätschaften (z. B. "Total Eclipse of the Sun"). Es muss ein Erlebnis sein mit den beiden durch einen Baumarkt zu wandeln.

Es wird wieder ruhiger. "Dead Friends (Around the Corner)" ist prinzipiell eine Bluesnummer, oder ein Chanson, wenn man so will. Bargeld hat von seiner Ausdruckskraft in all den Jahren nichts verloren, noch immer hängt man an seinen Lippen und kann in dieser tiefen sanftweichen Stimme versinken - wären da nicht die akustischen Eruptionen, die in Neubauten-Songs immer wieder auftauchen und laut gegen leise stellen.

Beim Sprechgesang zu "Unvollständigkeit", muss ich wegen der Stimmähnlichkeit kurzzeitig an Ben Becker denken, was macht der eigentlich mittlerweile? Wie großartig dieses hochdramatische Stück ist, hatte ich gar nicht mehr in Erinnerung! Wird Zeit sich mal wieder das Album "Alles wieder offen" zu Gehör zu bringen. Eigentlich mag ich ja keine Best-Of-Geschichten, aber auf der anderen Seite wird zu unrecht Vergessenes wieder in Erinnerung gebracht.

"Youme & Meyou". Es bleibt ruhig, die Neubauten sind leise geworden, spannend bleibt es trotzdem und wie Unruh dem Song mittels schnöder PVC-Rohre Rhythmik verleiht, grenzt an Poesie.

Blixa ist heute Abend übrigens blendend gelaunt, er plaudert ein wenig aus dem Neubauten-Nähkästchen - besser aus der Neubauten-Werkzeugkiste - über E-Rohre, abgelehnte Songs für einen Film ("Sabrina"), schräge Gitarren-Aktionen in einem Hamburger Flutkeller und selbst ein anfänglich technisches Problem mit dem Licht bringt in nicht aus der Fassung.

Aber das ist nach so langer Bühnenerfahrung ja auch kein Wunder oder wir man im Alter nicht penibler?

Dann endlich findet eines der stärksten Neubauten-Alben, "Silence Is Sexy" aus dem Jahr 2000, mit zwei nacheinander dargebotenen Stücken, die verdiente Würdigung. "Die Befindlichkeit des Landes" ist zeitgemäß, obwohl die Melancholia bei manchen Mitmenschen mittlerweile durch Ignoranz und Intoleranz ersetzt wurde, aber einst wächst Gras auch über diese Stadt! Und auch die "Sonnenbarke" bleibt beständig großartig - noch immer gerne Beifahrer.

1985. "Halber Mensch" war gewissermaßen der Aufbrauch ins Feuilleton. Heute Abend verschmilzt der Klassiker mit "Von Wegen" aus dem Jahr 2007. Passt gut. Der brummende Bass führt zurück zu "Sabrina" ins Jahr 2000  - die ganze Bühne wir rot. "It's not the red of the dying sun".



Jetzt wäre ein kleiner Aufwecker, wie "MoDiMiDoFrSaSo" oder ein Bier ganz schön. Ach, diese Hochkultur.

Blixa
erzählt aus dem Jahr 1980, wo er auf dem Rücken im Schlamm liegend Gitarre spielte und das sie diese Aufnahme erst 27 Jahre später, nicht zuletzt wegen der dann vorhandenen digitalen Möglichkeiten, in dem Song "Susej" auf "Alles wieder offen" verwendeten. Irgendwie weiß man den sonst eher unauffälligen Neubauten-Song jetzt deutlich mehr zu würdigen - aber so ist das oft mit Neubauten-Songs, man muss die Geschichte dahinter entdecken.

Zum Schluss spielen die Neubauten, "How Did I Die?" den ersten und einzigen Song vom 2014er Album "Lament", allerdings kommen die Streicher nur vom Band und nicht wie beim fulminaten Konzert in der Elbphilharmonie von einem echten Streicher. Trotzdem fulminantes Ende - vor dem ersten Zugabenblock - die Zuschauer sind begeistert, ich prinzipiell auch, hoffe aber dass Herr Bargeld und seine Herren jetzt mal etwas mehr Lärm veranstalten.

Als die Band auf die Bühne zurückkommt, ruft ein Zuschauer "lauter", ich bin es nicht, und ein anderer ruft "Tanz debil". Blixa zündet sich eine Theaterzigarette an und spielt als Antwort das sicher durch John Cage inspirierte "Silence is sexy".  Er hat ja recht der Herr Bargeld, die Stillemomente sind erhaben und wenn er danach durch das Knistern der brennenden Kippe die Stille wieder perforiert, kommt dies einer Defloration gleich!

Im Block unten am linken Bühnenrand hält übrigens schon das ganze Konzert über ein Anarchist die Fahne hoch und raucht - bis es der Ordnungsdienst spitz bekommt.

Von meinem Lieblingsalbum "Fünf auf der nach oben offenen Richterskala" kam noch immer kein einziger Song, aber jetzt erklingen zumindest die "Interimsliebenden" als erstes Stück vom ebenfalls Meisterwerk "Tabula Rasa". Erkennt man übrigens nicht sofort, denn Blixa singt rückwärts, lässt den Gesang live aufnehmen und dann direkt rückwärts ablaufen. Erst dann erkennt man die Übergangszeitliebenden. Ist schon ein echter Zampano der Herr Bargeld!



Es folgt mit "Total Eclipse of the Sun" ein weiterer, der mittlerweile fünfte Song aus dem Album "Silence is sexy". Klar gutes Album, aber doch etwas überrepräsentiert heute Abend. Dann Ende. Aus. Einige im Publikum verlassen erstaunlicherweise bereits die Plätze, aber die Mehrheit fordert mehr und so kommt es dann auch.

Mit einer metallenen Rettungsfolie, die Menschen mit Erfrierungen oder Verbrennungen sonst übergeworfen bekommen, knistert sich "Ein leichtes leises Säuseln" ins Ohr. Andächtige Stille. Den Schlusspunkt setzt wieder "Silence is sexy". Das "Redukt" ist ein würdiges Ende eines insgesamt sehr leisen Abends. Ich bin schon begeistert, aber auch etwas unvollständig. Kein Song aus "Fünf auf der nach oben offenen Richterskala".

SETLIST:
The Garden (1996 Ende Neu)
Haus der Lüge (1989 Haus Der Lüge)
Let's Do It a Dada (2007 Alles wieder offen)
Dead Friends (Around the Corner) (2004, Perpetuum Mobile)
Unvollständigkeit (2007 Alles wieder offen)
Youme & Meyou (2004, Perpetuum Mobile)
Die Befindlichkeit des Landes (2000 Silence Is Sexy)
Sonnenbarke (2000 Silence Is Sexy)
Halber Mensch / Von Wegen (1985 Halber Mensch) / (2007 Alles wieder offen)
Sabrina (2000 Silence Is Sexy)
Susej (2007 Alles wieder offen)
How Did I Die? (2014 Lament)

1te Zugabe:
Silence Is Sexy (2000 Silence Is Sexy)
Die Interimsliebenden (1993 Tabula Rasa)
Total Eclipse of the Sun (2000 Silence Is Sexy)

2te Zugabe:
Ein leichtes leises Säuseln (2004 Perpetuum Mobile)
Redukt (2000 Silence Is Sexy)





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